28.05.2015 4 Uhr morgens, Patagonien

Der Anfang, das Scheitern, der Neuanfang

Die ganze Nacht hat es geregnet. Nicht heftig, aber soviel, dass sich das Rauschen des Gletscherflusses in ein dunkles Grollen verwandelt hat. Und von allen Seiten höre ich das Fließen von Wasser, das an den Flanken des Bergkessels herunterströmt, um sich seinen Weg zum Fluss zu bahnen. Nach der Lautstäke zu urteilen wird der Gletscherabfluss immer breiter und reissender. Es ist noch dunkel, so dass ich nicht einschätzen kann, in was für einer Lage ich mich befinde. Der Boden des Zeltes ist noch trocken. Das Erreichen meines Zielpunktes auf dem Gletscher ist unter diesen Wetterbedingungen unmöglich, ausser, ich begebe mich noch mehr in Lebensgefahr. Ganz abgesehen davon, dass das Foto bei diesem trüben Licht aufgenommen, eher ein Beweisfoto

(mein Ziel erreicht zu haben) als ein unter ästethischen Gesichtspunkten brauchbares Foto für das Line of sight Projekt abgeben würde. Aber: Nach all diesen Qualen bis hierher gekommen zu sein und jetzt aufgeben? Ja. Ich habe davon geträumt, dieses Foto machen zu können, mir vorgestellt, darin die Weite des ewigen Eises zu zeigen, die Endlosigkeit, das Offene, das Gefährliche, das Schöne und das Furchteinflössende dieser Landschaft darstellen zu können, das auch einen Teil meines Lebensgefühls widerspiegel. Und jetzt scheitere ich am Wetter. Und wenn diese Landschaft, das ewige Eis, gar nicht so aussieht wie ich mir sie vorstelle? Würde ich dann auch gescheitert sein? Mir wird bewusst, dass ich die ganze Zeit so zielstrebig auf dieses Foto hingedacht habe, dass ich die Landschaft, die ich durchwandert bin gar nicht richtig wahrgenommen habe. Das nenne ich scheitern. Scheitern am Tunnelblick. Und will ich das nicht gerade durch mein Line of sight Projekt aufzeigen? Die eigenen Begrenzungen, den Tunnelblick zu erkennen und zu überwinden? Mein gewohntes Verhalten in Frage stellen? Wenn es hell ist, werde ich das Camp abbrechen und versuchen, wieder nach El Chalten zu kommen. Es gibt noch einen weiteren Zielpunkt des Line of Sight Projektes, 20 km an der … gelegen, bequem mit dem Auto zu erreichen. Die Landschaft auf meinem Rückweg nach El Chalten werde ich ganz genau wahrnehmen. Vielleicht ist sie ja endlos, offen, gefährlich, furchteinflössend, wunderschön und ich habe sie so gar nicht wahrgenommen. Ich mache mir jetzt erst einmal einen Kaffee.

 

18 Uhr

Der Regen wurde stärker, und das ganze Tal füllte sich mit Wasser, ich musste sehen, daß ich dort wegkam.

Nachdem ich das Zelt nass abgebaut und verstaut hatte, zog ich mich nackt aus, hob den fucking schweren Rucksack über meinen Kopf und querte den Hauptablauf des Gletschers. Das Wasser hatte eine so starke Strömung, dass ich es schräg, nur mit den Füssen im Flussgeröll nach Halt suchend, knietief queren konnte. Die Kälte war beissend. Auf den Gletschermoränen zog ich mich an und nach 1 1/2 Stunden passierte ich wieder das offizielle Camp Toro. Ich bin nicht ausgerutscht, habe mir nichts gebrochen, meine Sachen sind trocken geblieben, ich werde mir keine Erfrierungen holen und ich habe nichts verloren. Es sind diese Situationen, die mich inne halten lassen. Die Erkenntnis, wie verletzbar und machtlos ich gegenüber der Natur bin. Noch etwas habe ich in den letzten drei Tagen erfahren. Wie schnell sich mein, von mir durch Zigaretten, Alkohol und unachtsamem Essen vernachlässigter Großstadtkörper auf dieser extremen Wanderung erneuern kann. Ich bin heute auf dem Rückweg, die Landschaft aufmerksam wahrnehmend, ohne Pause, 14 km mit 30 kg Gepäck * getrackt – ohne Schmerzen oder dass ich müde geworden wäre, und das bei sportlich ambitioniertem Gelände. Scheint an dem klaren Gebirgswasser zu liegen, das, wenn es nicht versucht mich umzubringen, wunderbar schmeckt und natürlich an den Tortellinis! Apropos Tortellinis …

 

*ok ein paar Kekse und Tortellinis fehlen, also geschätzt 28 kg Gepäck

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