„Line of Sight“ USA

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„Es war ein heftiges Wetter. Da wir beide einen anstrengenden Tag hatten, war ich und meine Frau früh schlafen gegangen. So um Mitternacht bekam ich den Notruf. Notruf hieß für mich, so schnell wie möglich zum Hanger zu gelangen, mit meiner Crew den Rettungshelikopter herausschieben, kurze Einsatzbesprechung und los. Ein Mann war mit seinem Wagen an der Küste durch die Leitplanken gefahren und auf einem Felsvorsprung schwer verletzt gelandet. Polizei und Rettungssanitäter waren vor Ort, konnten den Mann aus den steilen Klippen aber nicht bergen.

In dieser Zeit war ich schon 30 Jahre Helikopterpilot. Ausgebildet zum Piloten wurde ich mit 18 Jahren bei der Army, mit 20 flog ich Einsätze in Vietnam. Soldaten in die Kampfzonen hinein und wieder heraus. Wenn man das überlebt hatte, konnte man fliegen, allerdings anders, als wenn man eine normale, kommerzielle Ausbildung als Helikopterpilot gemacht hatte. Damals hieß überleben, Fliegen im Extrembereich, dem Extrembereich der Maschine und auch der menschlichen Physis/Phsyche. Nach Vietnam spezialisierte ich mich auf high altitude Fliegen, z.B. Strommasten in den Anden abzusetzten, auf einer Höhe von 18.000 feet und mehr, punktgenau. Das wurde mit dem Longline-Verfahren gemacht. Langes Seil, 50 m und mehr unter dem Heli, an dem der Strommast hing, der dann genau über der vorbestimmten Stelle aus geklinkt wurde. Daraus entwickelte ich ein Verfahren, dass es ermöglichte, Menschen mit der Longline, aus sonst nicht möglichen Situationen, zu retten. Dies setzt eine hohe  Beherrschung des Helikopters voraus. Und deswegen flog ich nachher County Rettungseinsätze.

In jener Nacht wurde das Wetter immer schlechter, es Regnete, es war stockdunkel und die Sturmböen ließen die Maschine immer wieder in die ein oder andere Richtung gieren. Ich konnte mich nur an den weit entfernten Beleuchtungen von den Orten an der Küste orientieren, visuelle Referenz zum Boden hatte ich nicht mehr, da die Nacht mondlos und unter mir nur schwarzes Wasser war. Ich hatte Mühe, den Heli zu halten. Nach einer ¾ Stunde konnten ich die Ambulanzlichter der Rettungswagen und die Blaulichter der Polizei ausmachen. Als ich die Unfallstelle umflog, war die Maschine kaum zu stabilisieren. Mir war klar, ich musste mich entscheiden, abzubrechen oder die Rettung zu versuchen. Ich entschied mich, es zu versuchen. Unserer Rescuer hing danach an dem 40 m langen Seil, während ich versuchte, ihn und den Helikopter über dem Verletzten zu zentrieren. Ich hatte fliegerisch alles unter Kontrolle, ein technischer Fehler würde jedoch in solch einer Situation fatal sein, wir wären verloren. Wir waren in einem Extrembereich gekommen, der meiner Crew und mir sehr bewusst war. Um es kurz zu machen, wir evakuierten den Mann aus dem zertrümmerten Wagen, schoben ihn dann in den Helikopter, nachdem wir ihn mit der Longline zuerst bei den Sanitätern abgesetzt hatten und flogen ihn ins nächste Krankenhaus. Es hätte auch anders ausgehen können.

Ich glaube, ich war morgens um 4 Uhr wieder Zuhause. Ich erzähle dir das ganze nicht, um dir zu zeigen, was für ein toller Pilot, was für ein toller Typ ich bin. Ich muss niemanden mehr etwas beweisen.

Die Pointe kommt erst noch. In jener Nacht legte ich mich wieder zu meiner Frau ins Bett. Sie wachte auf und beschimpfte mich, warum ich sie aufgeweckt hätte. Ich wüsste doch, dass sie gestern einen anstrengenden Tag gehabt hatte.“

Tom kratzte sich am Kopf, lächelte und trank seinen Kaffee. Wir hatten uns im Zelt- Camp vom Whitney Portal kenngelernt. Er ist jetzt 62 Jahre alt, hat sich dieses Jahr Pensionieren lassen, obwohl ihm reichlich lukrative Jobs als Pilot angeboten wurden. “Ich kann fliegerisch nicht mehr besser werden. Man soll doch aufhören, wenn man am Besten ist!“ Er hat angefangen zu schreiben. Was ihn interessiert, was er durch das Schreiben herausfinden möchte: Wie kommen Entscheidungen zustande, wie kamen seine Entscheidungen zustande, die ihn so werden ließen, wie er jetzt geworden ist.

Während der Reise durch die USA, ist mir seine Geschichte nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Vielleicht erzähle ich sie deswegen in meinem „Line of Sight“ Blog.

 

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